Deutscher Gewerkschaftsbund

27.04.2018

Empfang der Stadt Leverkusen für Arbeitnehmer/innen am 26.04.2018

Rede von Jörg Mährle, Geschäftsführer DGB-Region Köln-Bonn

+++ Es gilt das gesprochene Wort+++

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

„Soziale Gerechtigkeit als Daueraufgabe – 100 Jahre nach der Novemberrevolution“, das ist sicherlich ein etwas sperriger Titel. Ich habe ihn aber gewählt, weil 1918 - vor 100 Jahren - ein zentrales Ereignis in Deutschland stattfand, das etwas in Vergessenheit geraten ist: Die sogenannte Novemberrevolution. In der Folge fanden wichtige politische Veränderungen statt, die unser Leben und unsere Gesellschaft bis heute prägen:

Die Novemberrevolution führte in der Endphase des Ersten Weltkrieges zum Sturz der Monarchie und zu Aufbau einer parlamentarische Demokratie, die, mit einer kurzen Unterbrechung durch die Nazis, bis heute Bestand hat.

Mit dieser Umwandlung ist auch das Frauenwahlrecht verknüpft: Seit 100 Jahren dürfen Frauen in Deutschland wählen. Ein Meilenstein der Gleichberechtigung. Aber eben auch nur ein Meilenstein, wie der Equal Pay Day im März zeigte ... oder der Anteil von Frauen in Führungspositionen. Gleichberechtigung ist mehr als das Wahlrecht.

Die Novemberrevolution ist aber auch Geburtsstunde von Betriebsräten und der Tarifautonomie: Am 15. November unterzeichneten Gewerkschaften und Arbeitgeber ein Arbeitsgemeinschaftsabkommen. Die Gewerkschaftsvertreter sagten zu, für einen geordneten Produktionsverlauf zu sorgen und wilde Streiks zu beenden. Die Arbeitgeber garantierten im Gegenzug die Einführung des 8-Stunden-Tages und erkannten den Vertretungsanspruch der Gewerkschaften an.  Außerdem wurde vereinbart, Arbeiterausschüsse in jedem Betrieb mit mehr als 50 Beschäftigten zu bilden. Gemeinsam mit den Unternehmensleitungen sollten sie die Einhaltung von Tarifverträgen überwachen.

Das sind wahrlich revolutionäre Umbrüche, die die Gesellschaft veränderten und bis heute prägen.

Und was viele nicht wissen: Es waren Arbeiter in Uniform, die diese Revolution vorantrieben.

Wie kam es zu diesen Veränderungen? Was waren die Ursachen?

  • Extremen Belastungen durch den mehr als vier Jahre währenden Krieg und der Schock über die drohende Niederlage des deutschen Kaiserreichs
  • Vordemokratische Strukturen
  • Extreme soziale Spannungen
  • Sowie eine Politik der reformunwilligen Eliten, die den erst der Lage und den Wunsch nach Veränderung in der Bevölkerung nicht erkannten.

Die Errungenschaften der Novemberrevolution müssen immer wieder verteidigt werden. Sie sind kein Selbstläufer.

Ich will hier keinen historischen Vortrag halten. Ich will vielmehr darauf hinzuweisen, dass die Errungenschaften der Novemberrevolution immer wieder verteidigt werden müssen. Sie sind kein Selbstläufer.

Die Verteidigung fängt im „Kleinen“ an: Bei der Tarifbindung, die in den vergangenen Jahren leider immer weiter zurückgegangen ist, weil sich Arbeitgeber mehr und mehr aus der Tarifbindung verabschieden. Im Einzelhandel beispielsweise von annähernd 100% Ende der 1990er Jahre durch Allgemeinverbindlichkeitserklärungen, auf mittlerweile 40%. Aber auch weil neue Dienstleister, die im Rahmen der Digitalisierung entstanden sind, Tarifverträge als Teufelszeug ansehen. Ein Beispiel ist Amazon.

Das sind nur zwei Gründe, warum sich Gewerkschaften nach langer Diskussion für die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns eingesetzt haben. Nicht als Ersatz für Tarifverträge, sondern als untere Haltelinie für Branchen, die sich der sogenannten Sozialpartnerschaft entziehen.

Die Wissenschaft hat dafür einen Begriff geprägt: Neues Dienstleistungsprekariat. Die politische Maxime, jede Arbeit ist besser als keine Arbeit - oder: soziale ist, was Arbeit schafft - hat dazu geführt, dass die Zahl der Mini- und Midijobs sowie der Soloselbständigen massiv gestiegen ist. Die Halbierung der Arbeitslosenquote seit 2005 hat einen hohen Preis. Und Verlautbarungen von annähernder Vollbeschäftigung klingen wie Hohn in den Ohren derer, die als Langzeitarbeitslose abgestempelt sind oder sich mit mehreren Minijobs über Wasser halten.

Wir müssen aber auch die betriebliche Mitbestimmung täglich verteidigen. Und auch hier sind es überwiegend neue Dienstleister, die das Recht zur Betriebsratsgründung massiv behindern. Die Essenskurriere Foodora und Deliveroo sind zwei Beispiele. Hier mussten Beschäftigte und die Gewerkschaft NGG massiven Widerstand der Arbeitgeberseite überwinden, um das Recht zur Betriebsratsgründung durchzusetzen.

Das sind - in aller gebotenen Kürze - zwei Facetten unserer aktuellen Arbeitswelt.

Aber auch die parlamentarische Demokratie ist kein Selbstläufer. Stephen Hawkins hat hierzu in 2017 einen meiner Meinung nach sehr beachtenswerten Artikel geschrieben. Der Titel: „Gefährlichster Zeitpunkt der Menschengeschichte“. Hawkins richtet „mahnende Worten“ an die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Der BREXIT sei ein „Aufschrei der Wut“ von denjenigen, die sich mit Blick auf die negativen Folgen der Globalisierung und zunehmenden sozialen Spaltung im Stich gelassen fühlen.

Mit dem BREXIT ist zwar nicht die parlamentarische Demokratie in Großbritannien abgeschafft. Die Abstimmung - vor allem aber die Wahlkampfphase davor - zeigten aber, dass Stimmungen das Ergebnis mehr beeinflussten als Argumente. Und das ist die eigentliche Gefahr für die Demokratie. Genauso gefährlich ist es aber auch, wenn demokratische Parteien oder aber politische Institutionen dermaßen an Vertrauen verlieren.

Ich erwähne das Beispiel aus Großbritannien, weil ähnliche Tendenzen auch bei uns erkennbar sind: Unzufriedenheit mit und Mißtrauen gegenüber Politik und Institutionen .... bis hin zum Hass ... postfaktische Diskussionen, bei denen die gefühlte Wirklichkeit kaum noch durch Argumente erschüttert werden kann ... und zunehmende Abstiegsängste, wie eine aktuelle wissenschaftliche Untersuchung der Böckler-Stiftung zeigt.

Ich frage mich, auch mit Blick auf die Oktoberrevolution, wie viel soziale Spaltung eine Gesellschaft verträgt, ehe sie nachhaltig erschüttert wird?

Und ich frage mich, auch mit Blick auf die Oktoberrevolution, wie viel soziale Spaltung eine Gesellschaft verträgt, ehe sie nachhaltig erschüttert wird?

  • Kann der gesellschaftliche Zusammenhalt dauerhaft bestehen, wenn 20% der Kinder in Armut leben ... und 17% aller Menschen?
    Auf welche Zukunft steuern wir zu, wenn wir wissen, dass der Bildungserfolg an unseren Schulen  stark von der sozialen Herkunft abhängt?
  • Ist es zuträglich, wenn rund 25% der Beschäftigten nur einen Niedriglöhne erhalten, der kaum über dem Hartz IV Satz liegt?
  • Und was sind die Folgen in 20 oder 30 Jahren, wenn die Niedriglohnbeschäftigten in Rente gehen?
  • Welche Auswirkungen hat es, wenn in einer typischen westdeutschen Großstadt knapp 50% der Bewohner/innen Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein haben ... aber nur 7 bis 10% des Wohnungsbestandes eine Sozialbindung haben?
  • Was macht es mit Menschen, wenn sie nach 20 oder 30 Jahren Berufstätigkeit arbeitslos werden und irgendwann in die Grundsicherung - also das Existenzminimum - rutschen? Und wenn sie nicht mehr Geld erhalten, als jemand, der noch nie in die Sozialkassen eingezahlt hat?
  • Können wir es uns als Gesellschaft leisten, dass in Ostdeutschland knapp 40% der Haushalte ihr Haushaltseinkommens zu über 50% durch staatliche Transferleistungen beziehen?
  • Was macht es mit einer Gesellschaft, wenn sich 1/3 - also 21 Mio. Menschen - keine ungeplante Ausgabe von 1.000 Euro leisten können, wenn sich 12,8 Mio. Menschen nicht einmal einen einwöchigen Urlaub leisten können, und wenn 4,9 Mio. Menschen beim Essen sparen müssen und sich allenfalls nur jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit leisten können.

Diese Zahlen sind kein Schreckgespenst, sondern traurige Realität in Deutschland. Sie stammen vom statistischen Bundesamt bzw. aus dem Armutsbericht der letzten Bundesregierung.

Und auf der anderen Seite: Der gesellschaftliche Reichtum konzentriert sich bei immer weniger Menschen. Die wohlhabendsten 10% in Deutschland besitzen ca. 60% des Vermögens. Die untere Hälfte der Bevölkerung besitzt 1%. Der Amazongründer verdient pro Minute ungefähr so viel wie seine Lagerarbeiter in einem Jahr!

Globale Konzerne perfektionieren ihre Steuervermeidungstrategien, so dass selbst die EU-Kommission, die nun wahrlich nicht als linksradikale Organisation bekannt ist, 13 Mrd. EURO Steuernachzahlung von Apple und 240 Mio. EURO von Amazon fordert.

Deutschland ist so ungleich, wie vor 100 Jahren, berichtete die Süddeutsche Zeitung im Dezember 2017. Unter der sozialen Spaltung leiden nicht nur die Menschen am unteren Ende der Einkommens- und Vermögensverteilung. Auch den Kommunen geht es - trotz sprudelnder Steuereinnahmen - nicht gut. Das zugewiesene Geld und die übertragenen Aufgaben passen nicht mehr zusammen. Da können sich die Kämmerer in vielen Kommunen noch so abstrampeln ... viel mehr als eine Mangelverwaltung kriegen sie nicht hin.

Ich beneide sie wirklich nicht, die Verwaltungen und ehrenamtlichen Ratsmitglieder, denn niemand lässt gerne Schultoiletten verwahrlosen, niemand schließt gerne Jugendzentren oder Schwimmbäder, niemand spart gerne bei Streetworkern oder in der Sozialarbeit.

Ich mache mir vielmehr Sorgen: um den gesellschaftlichen Zusammenhalt ... und um unsere Demokratie.

Liebe Kollegen/innen! An meinem Tonfall und der Wortwahl merken Sie hoffentlich, dass ich heute nicht Anklagen will. Ich mache mir vielmehr Sorgen: um den gesellschaftlichen Zusammenhalt ... und um unsere Demokratie.

Uwe Richrath hat in seiner Einleitung sehr positive Worte über die Rolle und Funktion von Gewerkschaften gefunden. Dafür noch einmal mein herzlicher Dank. Ich teile seine Auffassung in allen Punkten.

Ich glaube, ähnlich wie es Uwe Richrath in seiner Einführung beschrieben hat, dass es nicht nur starke Gewerkschaften geben muss, sondern auch mehr Politiker/innen, die Gemeinwohlinteressen stärker vertreten und Themen wie soziale Gerechtigkeit und Ökologie aufgreifen und zu Gesetzen machen. Denn: Die zunehmende soziale Spaltung und die Prekarisierung der Arbeit sind nicht vom Himmel gefallen, sondern Folge von politischen Beschlüssen oder politischen Unterlassungen.

Meine Befürchtung: Wenn die demokratischen Parteien nicht endlich anerkennen, dass sie mit ihrer Politik der vergangenen 20 Jahre maßgeblich zu der skizzierten sozialen Sozialen Spaltung beigetragen haben, dann treiben sie immer mehr Menschen in die Arme von Populisten und Nationalisten ... und schaffen sich irgendwann selber ab.

Ich hoffe innständig, dass diese Erkenntnis schnell reift.


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Dieser Artikel gehört zum Dossier:

1. Mai 2018 in der Region Köln-Bonn

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Jörg Mährle

Jörg Mährle

Jörg Mährle

 

Jörg Mährle arbeitet seit 2000 beim DGB in verschiedenen Funktionen. Seit 12/2017 ist er Geschäftsführer der DGB-Region Köln-Bonn. Vorher hat er erfolgreich eine kaufmännische Ausbildung in einem Handwerksbetrieb sowie ein Magisterstudium (Politikwissenschaften, Erziehungswissenschaften und Geografie) abgeschlossen. Er wurde 1966 in Kiel geboren.


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